Mittwoch, 12. August 2015

Persönliche Assistenz


Sie hatte Schultern, aber fast keine Arme und nur ein paar Finger. Die Beine endeten an den Oberschenkeln. Und trotzdem ist sie Auto gefahren, eine Spezialanfertigung für sie. Fast jeden Tag fuhren wir zur Physiotherapie.

Im März 2011 haben wir uns kennengelernt. Ein Kumpel arbeitete damals mit ihr. Noch im gleichen Monat wurde ich ihr persönlicher Assitent. 24h-, 48h- oder 72h-Stunden-Dienste. Ich schlief in einem Zimmer in ihrer Wohnung. Essen, Trinken und Schlafsack brachte ich mit.

Ihre Eltern habe ich nur einmal gesehen. Sie wollte, dass ich keinen Kontakt zu ihnen habe. Trotzdem haben wir uns im Sommer 2011 an dem Haus getroffen, in dem sie aufgewachsen war. Ihr Vater meinte, dass seine Tochter wohl nicht so ganz einfach sei. Seine Frau hatte in der Schwangerschaft Contergan eingenommen.

1957 kam der Arzneistoff Thalidomid in Deutschland unter dem Namen Contergan auf den Markt. Rezeptfrei. Vier Jahre später wurde das Medikament durch die Herstellerfirma Grünenthal vom Markt genommen. Grund war die Feststellung einer kausalen Beziehung zwischen der Einnahme von Contergan durch schwangere Frauen und einer Fehlbildungs-Welle von Neugeborenen bis Mitte des Jahres 1962. Die Frauen hatten das Medikament gegen Kopfschmerzen eingenommen.....

Weitere Informationen zu Contergan:
"Contergan - 50 Jahre später" (Dezember 2012)

Einmal war der Handwerker in der Wohnung. Ich hatte einen 72h-Dienst und war ohne Unterbrechung damit beschäftigt, sie zu versorgen, aber auch alles abzukleben und mit Folien auszulegen, um im Anschluss jedes einzelne Möbelstück und jedes Kuscheltier zu reinigen. Nach diesen drei Tagen hat sie mich das erste und einzige Mal gelobt.


Das war eine Ausnahme. Ich glaube, dass sie es noch nicht einmal bewusst wollte: Sie hat sich von mir nicht helfen lassen wollen.

Sie beschimpfte mich - wir beide völlig übermüdet - wenn ich ihr Nachts mit unzähligen Lagerungskissen nicht in die Position verhalf, in der sie Schmerz-frei war. Sie beschimpfte mich, weil ich das Shampoo nicht richtig einmassierte. Sie beschimpfte mich bei jeder meiner Pflegehandlungen.

Einmal, in Vorbereitung auf die Physiotherapie, es war das erste Mal für mich - mit unglaublich viel Kraftaufwand nach dem Duschen, den Toilettengängen - wieder einer Lagerung, doch dieses Mal auf einer hohen Liege mit erneut unzähligen Kissen und Tüchern...

... Sie beschimpfte mich, weil ich sie wiederum falsch hingelegt hätte. Irgendwann, in dieser von spanischen Wänden umgebenen Kabine hätte ich die Arbeit abbrechen müssen. Ich hätte gehen müssen, weil ich ganz offensichtlich unprofessionell handelte. So hat sie es dargestellt...

... Aber ich konnte nicht gehen. Ich konnte sie dort nicht alleine lassen. Sie kann zwar ein Auto steuern aber jemand muss sie in das Auto hineinheben. Sie darf niemals in ihrem Leben auch nur für fünf Minuten alleine sein.

Während ich bei ihr arbeitete, absolvierte ich das Bewerbungsverfahren für den Höheren Dienst im Auswärtigen Amt. In Bonn nahm ich an einem eintägigen Prüfungsverfahren teil, wurde zusammen mit weiteren 500 Kandidaten unter anderem in Geschichte, Politik und Mikroökonomie geprüft. In der Pause saß ich in der Mensa mit einer jungen Frau am Tisch. Wir kamen ins Gespräch. Sie betreute in Köln eine Contergan-Geschädigte Frau. Sie sagte, dass es total schön wäre, weil sie mit der von ihr betreuten Dame auf Parties geht und Familienfeste feiert.

Nach acht Monaten kündigte ich.

Die Prüfungen für das Auswärtige Amt habe ich nicht bestanden. Ein Freund meiner Schwester hat es geschafft. Auf seinem Schreibtisch streicht er fertige Aufgaben auf dem Notizzettel mit dem Lineal durch.  Die Contergan-Geschädigte Frau beschwerte sich bei mir, wenn ich das Wasserglas auf dem Tisch auch nur einen Zentimeter in die falsche Richtung verschob.

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