Sonntag, 22. Februar 2015

Chile - Utopie und Folter

"Wir werden gerne 'Kontinent der Hoffnung' genannt. In Wirklichkeit ist diese Hoffnung so etwas wie ein Himmelsversprechen, wie ein Schuldschein, dessen Einlösung verschoben wird. Sie wird verschoben auf die nächste Legislaturperiode, das nächste Jahr, das nächste Jahrhundert."
[Pablo Neruda, chilenischer Schriftsteller, 1973]
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Salvador Allende und Pablo Neruda [Foto: radio.uchile.cl]
Im Flugzeug treffe ich Leonardo, Tierarzt, der in Deutschland lebt und seine Familie in Chile besucht. Er sagt, dass in seinem Heimatland viele Menschen General Pinochet in guter Erinnerung haben. Doch schon der Mord an einer einzigen Person ist für Leonardo der Grund, einer Regierung die Legitimität abzusprechen. 
Am 11. September 1973 erschoss sich der demokratisch gewählte chilenische Präsident Salvador Allende. Vorher hatte das Militär den Präsidentenpalast bombardiert. Das war der Beginn der Diktatur Pinochets, die bis zum 11. März 1990 dauern sollte. Tausende Chilenen fielen ihr zum Opfer.

Das "Museo de la Memoria y los Derechos Humanos", dass "Museum der Erinnerung und der Menschenrechte" 
File:Sala Represión y Tortura del Museo de la Memoria 03.JPG
Folter mit Elektroschocks während der Diktatur - Dauerausstellung im Museo de la Memoria, Santiago de Chile [Foto: wikimedia.org]
Das Wort "Memoria" hat in Lateinamerika eine besondere Bedeutung. Es ist nicht einfach nur die Übersetzung für "Erinnerung", es ist die Auseinandersetzung mit der Zeit der Diktatur, in die in den 1960er und 1970er Jahren nacheinander alle Nachbarstaaten Chiles stürzten. 
Europa und die USA wollten den Einwohnern der ehemaligen Kolonien ihr Ideal einer neuen, demokratischen Grundordnung schenken. Doch die "caudillos", die skrupellosen Machthaber von Kuba bis Chile, mißbrauchten die Instrumente der westlichen Staatsführung, um den modernen lateinamerikanischen Unrechtsstaat zu erschaffen. Aus den Regimen der "caudillos" wurden "Regimes militares" - Militärregime - nicht selten unterstützt von Europäern und Amerikanern. 

Wie kann man sich heute mit der Diktatur auseinandersetzen? Gibt es eine kollektive Memoria? Brachte Pinochet nicht Stabilität, Kontinuität und Wirtschaftswachstum? 
Es hat lange gedauert bis das "Museum der Erinnerung" gebaut wurde. 2010 wurde es eröffnet. Die Verfassung Pinochets aus dem Jahr 1980 gilt in Chile bis heute. Die "Memoria" ist nicht nur Vergangenheit - sie ist im Hier und Jetzt und sie ist die Zukunft dieses Landes.

Ein neunjähriges Mädchen schreibt an ihren Vater, der von dem Geheimdienst der Militärdiktatur entführt wurde - ein Brief, ausgestellt im "Museo de la Memoria":
"Lieber Papi:
Ich bin traurig weil Du nicht nach Hause kommst, ich habe Dich sehr sehr lieb und ich warte auf Dich weil Du gut bist und nicht schlecht Papi, weil ich immer an Dich denken muss.
Papi, in der Schule habe ich gute Noten und ich lerne viel damit Du keine faule Tochter hast. Mami sagt, dass ich mich gut benehmen und viel lernen soll damit Du wiederkommst...
[...] Wir wissen nicht, warum man uns unseren Papi weggenommen hat. Meine Mami sagt, dass wir es verstehen werden wenn wir gross sind...
[...] Ich habe gesehen wie meine Mami geweint hat, aber sie sagt, dass alles in Ordnung ist..." [...]
¿Dónde están?, preguntan en Chile en el Día del Detenido Desaparecido
Donde estan? - Am 30. August ist in Chile "El día de los Desaparecidos" - Der Tag der Verschwundenen [Foto: unitel.tv]
Salvador Allende und Chiles 9/11
Er ist nicht nur ein Präsident, er ist ein Mythos - ein Vorbild, fast schon ein Heiliger vieler Linker weltweit. Aber war seine Politik nicht eine Utopie? Ein sozialistischer Staat mit dem absolutem Bekenntnis zur Demokratie. Kann so etwas wirklich funktionieren?
Die Dekrete, Anordnungen und Gesetzte aus dem Jahr 1971 für die Stadt Santiago: Hunderte Aufrufe zu Wahlen der "Junta de vecinos", "Asociación de madres", "Asamblea de socios", "Brigadas de salud" ect. In baisdemokratischer Eintracht sollten die Probleme Chiles gelöst werden. Allende war nicht der erste chilenische Präsident, der die ungeheuren sozialen Mißstände, die extreme Unterversorgung der Bevölkerung und die hohe Kindersterblichkeit beenden wollte. Aber radikaler als alle anderen Entscheidungsträger vor ihnen, glaubten er und seine Mitstreiter, dass man die Probleme nur gemeinsam und nur mit den gleichen Rechten und Pflichten für alle lösen könne. 
Pinochet hat viele der Juntas, Asociaciones und Asambleas nach dem chilenischen 9/11 nicht abgeschafft. Es gab für diese Gremien nur keine demokratischen Wahlen mehr. Die Diktatur kam nicht aus dem Nichts. Viele Chilenen, vor allem die Rechten und Konservativen, fürchteten die "Gleichmacherei" Allendes und legten das Land lahm. Überall gab es Streiks und Blockaden. Das Militär sorgte nicht für Ordnung - Das Militär beendete brutal eines der größten und sicherlich auch gewagtesten demokratischen Experimente, die die Welt jemals gesehen hat. Denn dieses Mal konnte man über das Fernsehen auf allen Kontinenten den Präsidentpalast "La Moneda" in Flammen sehen.

Am 23. September 1973 erlag Neruda einem Krebsleiden, auf dem Höhepunkt der Verhaftungswelle. Nach seinem Tod wurde Nerudas Haus vom Militär geplündert und zerstört.

Zum Weiterlesen:

Post vom 25.03.2013 - "Vor 40 Jahren: Chiles 9/11"
Post vom 02.09.2013 - "Obduktion eines Putsches"

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