Mittwoch, 5. Dezember 2012

Hyperbilirubinämie, Holocaust und Fußball

Diesen Post können Sie/könnt Ihr auch auf Spanisch lesen:
Gespräch mit Henry Gruen, vormals Heinz Grünebaum
Schülerinnen der Jawne auf dem Schulhof 1939, Foto: www.zug-der-erinnerung.eu
Henry Gruen ist ehemaliger Schüler der Jawne, eines jüdischen Realgymnasiums, welches sich von 1919 bis 1942 in der Nähe des Appellhofplatzes in Köln befand. 
Ab 1933 hätte es zwei Initiativen für die Ausreise jüdischer Kinder gegeben, erzählt der 87jährige: die eine wurde von englischen jüdischen Gemeinden organisiert, für die andere war Erich Klibansky verantwortlich. Das jüdische Gymnasium wurde von ihm geleitet, er war dessen letzter Direktor. Klibansky hatte die Zeit verstanden. Er arbeitete mit aller Kraft dafür, dass möglichst viele jüdische Kinder nach England ausreisen konnten. Die Suche nach Patenfamilien war nicht einfach, aber er kämpfte wie ein Löwe für seine Schüler. Von der Jawne ist kein Stein übrig geblieben, doch dort wo sie sich befand, existiert heute eine Gedenkstätte mit einem Löwenbrunnen. Henry Gruen erinnert sich, dass man in der Schule großen Wert auf den Englischunterricht legte. Das war in den 1930er Jahren. Die Zeit drängte. Als es dann endlich soweit war, wäre die Ausreise für ihn ein spannendes Abenteuer gewesen. Doch das endete nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich 1940. Gruen wurde er als Enemy alien eingestuft und auf der Isle of Man interniert. Damals war er 15 Jahre alt. Seine Schwester und seine Eltern waren in Deutschland zurückgeblieben. Er sah sie nie wieder.
Schüler der Jawne kurz vor der Ausreise 1933 am Kölner Hauptbahnhof, Foto: www.kindertransporte-nrw.eu
In dieser Zeit wurde sein Interesse für Chemie geweckt. Henry Gruen erklärt, woran man eine Hyperbilirubinämie erkennt und wie man sie behandelt. Auf der Isle of Man lernte er Leute kennen, die bei ihm die Begeisterung für die Erforschung der Zusammenhänge zwischen chemischen Stoffen und Farben weckten. Erst spät hätte er erkannte, dass es immer die Mitmenschen gewesen seien, die seinem Leben die wichtigen Impulse gegeben hätten.
Weil sie wie die Juden den Sabbat feiern, besuchten auch Siebenten-Tags-Adventisten die jüdischen Schulen. Henry Gruen war es egal, mit wem er damals zusammen war – „Hauptsache, sie haben Fußball gespielt!“ 
Im Schulalltag der Jawne war Dr. Siegfried Braun der einzige Lehrer, der die Prügelstrafe nicht anwandte. Erich Klibansky wäre eine Autoritätsperson gewesen. Andere Lehrer hätten sie gnadenlos fertig gemacht. Bei Klibansky sind alle sofort ruhig geworden. Er organisierte ab 1933 die Transporte seiner Schüler nach England. 130 Kinder von ihnen konnte er retten. Als er sich selbst und seine Familie für den letzten Transport anmeldete, war es zu spät. Sie wurden 1942 in einem Waldstück in der Nähe von Minsk erschossen. 
Henry Gruen traf 1938 in England ein. Später wanderte er in die USA aus. Nach langen Überlegungen kehrte er 1971 nach Deutschland zurück und arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Chemiker am Max-Planck-Institut für Bioanorganische Chemie in Mühlheim an der Ruhr.
Erschreckend war für ihn die Tatsache, dass er nicht auf die Frage antworten konnte, wie man sich damals innerhalb der jüdischen Gemeinde oder in der Familie unterstützte. Weder Eltern noch Lehrer haben ab 1933 mit ihm über die Bedeutung der Ereignisse auf der Straße gesprochen. Und dabei war der Haß im wahrsten Sinne des Wortes an jeder Straßenecke zu spüren. Viele seiner nicht-jüdischen Freunde wollten plötzlich nicht mehr mit ihm spielen. Fußball sei da die einzige Möglichkeit gewesen, den Frust herauszulassen. Beim Spiel verdrängte man das Thema und isolierte so sich selbst. Manchmal kickten sie extrem brutal. Nur die Isolation von innen war stark genug, um die Isolation von außen zu verkraften.
Henry Gruen ist der letzte noch in Deutschland lebende ehemalige Schüler der Jawne. Zum Abschluss sagt er, dass die Gegensätzlichkeit der Menschen eine große Chance für ihr friedliches Miteinander sei. Denn nur wenn man versuchen würde, den anderen zu verstehen, könne man sich selbst besser kennenlernen. So gelang es Henry Gruen, seine eigene Isolation zu durchbrechen.

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